Gesundheitspolitik auf mexikanisch

Knapp zwei Jahrzehnte nachdem die Weltgesundheitsorganisation WHO offiziell ein hohes Körpergewicht zur Epidemie erklärt hat, gilt nicht länger die USA als Hotspot der neuen „Gesundheitskatastrophe“, sondern ihr südlicher Nachbar. Mittlerweile reagiert die mexikanische Regierung auf das Phänomen mit einer Reihe von Maßnahmen, die international Aufsehen erregen. Dazu zählen unter anderem: Eine Steuer auf Softdrinks und hochkalorische Nahrungsmittel und in der Hauptstadt Mexiko-City Fitness-Automaten an Busstationen. Wer es schafft, an diesen Geräten zehn Kniebeugen zu machen, bekommt einen Schrittzähler geschenkt – finanziert wird dieser von einem Getränkehersteller, dessen Produkte als maßgeblich verantwortlich für die Gewichtszunahme angesehen werden. Ursprünglich war geplant, die Automaten in U-Bahnstationen zu integrieren. Als Preis für herausragenden Körperfleiß war ein Freiticket vorgesehen. Doch in der Metro ließen sich die Geräte aus logistischen Gründen bislang nicht aufstellen.
Die Reaktion der mexikanischen Regierung auf das steigende Körpergewicht der Bevölkerung ist beispielhaft für eine konsequente Quantifizierung und Individualisierung von Gesundheit wie sie sich in allen Staaten, die das Körpergewicht der Bevölkerung zum Problem erklärt haben, so oder so ähnlich wiederfinden. Zum einen setzt sie Gesundheit und Körpergewicht in eins: Die gesundheitlichen Probleme weiter Bevölkerungsteile werden auf ihr Körpergewicht zurückgeführt, die Lösung der gesundheitlichen Probleme liegt allein in einer Reduktion des Körpergewichts. Zum anderen individualisiert sie die Verantwortung für das Erreichen eines niedrigen Körpergewichts. Durch Preiserhöhungen für hochkalorische Lebensmittel und Fitnessübungen in der Öffentlichkeit sollen die Bürgerinnen und Bürger dazu gebracht werden, ihren Lebensstil so zu verändern, dass sie durch eigene Anstrengung schlank und gesund werden. Investitionen in die Infrastruktur, die eine ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung oder die Integration von Bewegung in den Alltag – etwa über Einschränkungen des Individualverkehrs – erleichtern würden, bleiben hingegen außen vor.
Nun machen Steuern auf „ungesunde“ Lebensmittel „gesunde“ Lebensmittel nicht günstiger. In Industrie- und Schwellenländern sind hochkalorische und weiterverarbeitete Lebensmittel sehr viel billiger als frische Lebensmittel; insbesondere dann, wenn nicht das Gewicht der Lebensmittel, sondern ihr Kaloriengehalt als Vergleichsgrundlage herangezogen wird. Zudem sind weiterverarbeitete und meist hochkalorische Lebensmittel einfacher und schneller zuzubereiten. Eine Steuer auf weiterverarbeitete Lebensmittel ohne gleichzeitig frische Lebensmittel deutlich zu subventionieren, schränkt die Auswahl beim Einkaufen derjenigen, die über wenig Mittel verfügen, zusätzlich ein. Vorteile bringt sie allein dem Steueraufkommen des Staates, das nun zu noch größeren Teilen aus nichtprogressiven und unsozialen Konsumsteuern finanziert wird. Noch problematischer sind die Fitnessgeräte im öffentlichen Raum. Abgesehen davon, dass sich Lebensmittelkonzerne, die doch sonst als verantwortlich für das Problem gelten, hier als Teil der Lösung präsentieren können, belohnen diese Automaten vor allem diejenigen, die dem Ideal bereits entsprechen. Nur sie sind physisch in der Lage und haben zudem das nötige Selbstbewusstsein die Übungen in der Öffentlichkeit durchzuführen. Dünne, junge, sportliche Menschen werden mit Schrittzählern und kostenlosen Fahrkarten belohnt. Alle, die dem Ideal nicht entsprechen, werden damit noch stärker als bislang schon konfrontiert. Ihnen bleibt allein die Scham über ihr „Versagen“.
Die mexikanische Regierung radikalisiert mit ihren Maßnahmen das, was in der populären Darstellung der „Adipositas-Epidemie“ omnipräsent ist. Die Reduktion der komplexen Ursachen eines hohen Körpergewicht auf ein Ungleichgewicht der Energiebilanz, ausgelöst durch zu viel Ernährung und zu wenig Bewegung. Die Darstellung des Körpergewichts als Ursache einer Vielzahl gesundheitlicher Probleme und chronischer Krankheiten. Die automatische Gleichsetzung von dick mit krank. Die postulierte Unvereinbarkeit von körperlicher Fitness und einem hohen Körpergewicht – denn schließlich soll durch die öffentlichen Kniebeugen ja der Anteil der dicken Menschen an der Gesamtbevölkerung reduziert werden und nicht etwa Menschen unabhängig von ihrem Gewicht fit halten. Und die Wahrnehmung eines hohen Körpergewichts nicht als Symptom von, sondern als zentrale und häufig als einzige Ursache gesundheitlicher und sozialer Probleme. Diese Darstellung verringert gesundheitliche Ungleichheit nicht, sie vergrößert sie. Denn durch sie wird die Verantwortung für Krankheit individualisiert und Gesundheit zu einem über den „richtigen“ Konsum zu realisierenden Distinktionsmerkmal erhoben.